Wilfried Engemann schlägt in seiner Homiletik eine geordnete Schrittfolge zur Erstellung eines Predigtmanuskriptes vor (W. Engemann, Homiletik, 2011, 490 – 503). Diese Schrifttfolge wird hier modifiziert vorgestellt, mit Variationen und Ergänzungen.
Vorab: Grundsätzlich ist dieses Modell der Predigtvorbereitung eine Abfolge von Phasen und Schritten, die in ihrer Reihenfolge bewusst gesetzt sind; Schleifen der Rückkopplung und Wieder-Holung sind aber durchaus möglich, in einzelnen Fällen sogar geboten. Eine Nebenwirkung dieser geordneten Phasenfolge ist die Entschleunigung im Zugriff auf den biblischen Text, eine Vorkehrung gegen eine zu schnelle Vereinnahmung durch das »schon immer Gedachte und Gewusste«.
0. Fortlaufend
Die Arbeit mit dem Speicher der Fragen und Ideen zur Predigt und ihrem Text läuft durch – damit ist die Sicherung der direkten Fragen, der spontanen Eindrücke, der direkten Einfälle auf Zetteln gemeint (s.u.)
Hinweis: Engemann weist auf die Gefahr hin, dass diese ersten Eindrücke vermutlich eher geeignet sind, das zu wiederholen, was ich (als Prediger*in) sowieso weiß, meine, sagen will; dennoch können diese ersten ungeordneten und unsystematischen »Fundstücke« für die spätere Predigtarbeit von Nutzen sein.
Methodischer Vorschlag: Den Speicher der Ideen und Fragen auf kleinen Blätter oder Karten anlegen, dabei Fragen und Ideen unterscheiden, etwa durch ein kleines »?« oder »!« in einer Ecke.
■ »?« – Fragen führen (oft) zu Antworten, die im Bereich des Rationalen beheimatet sind.
■ »!« – Ideen führen (oft) zu Material (Bilder, Wörter, Sprache, Gedanken) für die Kreation.
1. Phase: Vorbereitung
1.1. Das homiletische Tagebuch
Das Tagebuch ist eine persönliche Materialsammlung: Gehörtes, Gesehenes, Gelesenes, Erfahrenes – das alles notiert ohne unmittelbare Verwertungsabsicht.
Hinweis: Die Wahrnehmungen für das homiletische Tagebuch stammen aus dem privaten Umfeld, sollten aber unbedingt auch den »öffentlichen Raum« einbeziehen, der (mindestens) das Umfeld der Predigtgemeinde einbezieht; neben dem direkten Erleben sind auch Medien (Fernsehen, Radio, Zeitung) nützlich
mögliche Fragen:
■ Welchen Auseinandersetzungen zu welchen Fragen oder Streitpunkten bin ich begegnet?
■ Was hat mich empört oder entsetzt?
■ Mit wem habe ich mich solidarisch gefühlt oder erklärt?
■ Habe ich jemanden weinen, lachen, zornig sein gesehen? Was waren die Anlässe, was die Gründe dafür?
■ Welche Szenen haben mich fasziniert, welche abgestoßen?
1.2. Die Lektüre des Textes (in deutscher Sprache)
Hinweis: In dieser Phase geht es um die »einfache Lektüre«, das unverbildete Hören, in versuchter Naivität; der exegetisch Zugang zum Text erfolgt später
mögliche Fragen:
■ Was wird erzählt? Wovon redet der Text? Welches Thema gibt er vor?
■ Auf welche Frage spitzt der Text sein Thema zu? Welche Position vertritt er in dieser Frage?
■ Welche Voraussetzungen hat der Text, ausgesprochen oder unausgesprochen?
■ Wer kann mit einer solchen Erzählung etwas anfangen? Wem gilt der Text?
■ Was soll der Text bewirken?
■ Welche Form(en) hat der Text (Erklärung, Erzählung, Dialog, …)?
■ Welche Überschrift würde ich dem Text geben, um zusammenzufassen, was er erzählt?
■ Welches Wort ist für mich im Moment der stärkste Energieträger (»Kernwort«)?
1.3. Die Wahrnehmung von Beziehungs- und Inhaltsaspekt (im Lesen des Textes)
Hinweis: Die Inhaltsebene ist mit den Fragen unter 1.2. schon umrissen, hier nun Fragen zur Beziehungsebene.
mögliche Fragen:
■ Welche Stimmung (Dank, Resignation, Trauer, Empörung, …) herrscht im Text selber vor?
■ Mit welchen Gefühlslagen rechnet der Text auf der Seite der Leser?
■ Welche Empfindungen löst der Text bei mir aus?
■ Woran könnte es liegen, dass ich mit diesen Empfindungen (Begeisterung, Zustimmung, Ablehnung, Zorn, …) reagiere? Welche (Vor)geschichte habe ich mit diesem Text?
■ Widerspricht (oder entspricht) der Text Grundüberzeugungen meines Denkens
■ Löst dieser Text überhaupt etwas bei mir aus oder kann ich mich zunächst nur auf der intellektuellen Ebene mit ihm befassen?
Hinweis zur ersten Phase: Die Begegnung mit dem Text kann durch weitere wahrnehmungsbezogene Annäherungen ergänzt werden (etwa musikalisch, bibliodramatisch, gestalterisch, meditativ, …).
Exkurs: »Zum Predigteinfall« (Teil 1)
In einem späteren Arbeitsschritt werden methodisch kontrolliert Predigteinfälle gesammelt und gewichtet, um den einen Predigteinfall zu identifizieren, der als Bezugsidee zwischen Bibeltext und Predigtmanuskript funktioniert. Möglicherweise fallen aber auf dem Weg schon vorher Ideen ein, aus denen der (spätere) Predigteinfall erwachsen wird. Wer weiß schon jetzt, was später funktioniert? Deshalb lohnt sich ein gründliches und wohlwollendes Sammeln auf dem Weg, ohne Beurteilung und Gewichtung: »freie Kreativität«.
2. Phase: Analyse
2.1. Die historische Situationen und der »Sitz im Leben« des Textes
Ansatz: In diesem Schritt geht es darum, die Situationen der Entstehung und der Überlieferung des Textes zu verstehen, mit Engemann: die Situationen, »die diesen Text nötig gemacht haben«.
mögliche Fragen:
■ In welchen zeitgeschichtlichen Rahmen gehört der Text?
■ Welcher historische Erfahrungskern prägte diesen Text?
■ Angesichts welcher Probleme ist dieser Text verfasst bzw. gebraucht worden? Wofür stellt dieser Text eine Lösung dar?
■ Was bzw. wer sollte sich aus der Sicht des Textes ändern?
■ Gegen welche Haltung und Erwartungen wendet sich der Text? Welche bestätigt er?
■ In welchen Lebenszusammenhang hatte der Text im Leben der Menschen seinen Ort?
Hinweis: Hier scheint der Ort zu sein, sich im klassischen Sinn exegetisch mit dem Text zu beschäftigen und die Kommentare zu befragen.
2.2. Die Textur der Gegenwart und der »Sitz im Leben« der Predigt
Aus Sicht der Semiotik und in deren Begrifflichkeit sind nicht nur geschriebene Wörter »Texte«, sondern alles das, was in einer Kultur als »Zeichen« verstanden werden kann – also alles, was Ausdruck gibt über das Selbstverständnis von Menschen, deren Weltbilder und Lebensgefühle usw. Diese Textur der Gegenwart ist wahrzunehmen und zu entziffern, um die Wirklichkeit der Hörenden möglichst genau zu verstehen.
Gegen zwei mögliche Missverständnisse:
a) Die Textur der Gegenwart bildet den Bezugsrahmen der Predigt. Sie muss keinesfalls in jeder Predigt ausdrücklich thematisiert werden.
b) Die Textur der Gegenwart muss nicht in der Ausführlichkeit jede Woche neu erkundet werden.
mögliche Fragen:
■ Wie und woran orientieren sich die Menschen der Gemeinde in ihrem Leben?
■ Welche Werte gelten als erstrebenswert, welche werden abgelehnt?
■ Was wird (je nach Milieu und Lebensituation) unter einem schönen, erfüllten, vergeudeten, verlorenen Leben verstanden?
■ Welchen besonderen Schwierigkeiten und Risiken sind Menschen heute ausgesetzt?
■ In welchen Zusammenhängen machen Menschen die Erfahrungen von Unfreiheit, Ausgegrenztsein, Unterdrückung, usw.?
■ In welchen Zusammenhängen kommt die Spannung zwischen Individualität und Anpassung besonders zur Geltung?
■ Welche (weiteren) Fragen oder Aufgaben beschäftigen die Menschen der Gemeinde?
2.3. Gegenüberstellung: historische Situationen des Textes und Situation der Predigt
These: Eine wirksame Predigt passt zu der Lebenssituation der Hörenden und ist aus der Auseinandersetzung mit ihrer Wirklichkeit hervorgegangen
mögliche Fragen:
■ Gibt es Ähnlichkeiten oder Analogien zwischen der Situation, die damals zu dem konkreten Bibeltext geführt hat und der Situation, in der die Predigt heute voraussichtlich rezipiert wird?
■ Gibt es »anthropologische Konstanten«, die aus der Situation damals in die Situation heute hinüberreichen? In welchen Erfahrungen werden sie damals und heute konkret?
■ In welche Richtung hat der Text damals das Denken und Handeln der Menschen beeinflusst? Auf welches (Um)denken und Handeln müsste eine Predigt zielen, die heute Entsprechendes bewirken will?
■ Welche der im Text zwischen den einzelnen Figuren hervortretende Beziehungen bzw. der sich abzeichnenden Gottesbeziehungen sind analog für die Beziehungen von Menschen und ihr Gottesverhältnis heute von Bedeutung?
2.4. Die (semantischen) Motive des Predigttextes
In dieser Perspektive stehen die Ideen, Bilder und Vorstellungen im Mittelpunkt, mit denen der Text die Situation beschreibt, reflektiert und beeinflusst. Es geht um seinen »Sprachraum«. Eine Teilperspektive stellen die »semantischen Achsen« dar, also Gegensatzpare, die den Text bestimmen: reich – arm, nah – fern, stark – schwach, Gewinn – Verlust, usw.
mögliche Fragen:
■ Welche sind die tragenden Grundideen, Bilder und Vorstellungen des Textes?
■ Welche semantischen Oppositionen (reich – arm, usw.) bestimmen die Konstruktion und die Botschaft des Textes?
■ Welche Bedeutung kommt diesen Motiven, Bildern und Vorstellungen in anderen biblischen Kontexten zu? Worin besteht im vorliegenden Text ihre spezifische Bedeutung?
■ Welche Werteskala impliziert der Text? Welcher Wert rangiert ganz oben, welcher ganz unten?
■ Mit welchen Begriffen oder Anspielungen ist vom Menschen, vom Glauben und von Gott die Rede?
2.5. Exkurs: Die Predigt als Geschehen im Gottesdienst
Die Predigt als gesprochenes Wort im Gottesdienst ist umgeben von anderen Wörtern, die agendarisch bestimmt sind: Wörter der Liturgie, Wörter der Lesungen, Wörter der Lieder. Deshalb lohnt sich ein Seitenblick auf dieses Material:
■ Welche Themen und Motive, welchen Aspekt bieten die Lesungen an?
■ Welche Themen und Motive, welchen Aspekt bietet der Wochenpsalm an?
■ Welche Themen und Motive, welchen Aspekt bietet das Wochenlied an?
■ Welches Thema bietet der Sonntag/Feiertag im Rahmen des liturgischen Jahreslaufes an?
2.6. Berührungspunkte zwischen Motiven des Textes und dem (aktuellen) gesellschaftlichen Diskurs (»Situation«)
Diese Phase stellt Bezüge zwischen dem Text und dem »Sprach- und Verständigungsraum der Gesellschaft« her. Dazu gerät zuerst der aktuelle Diskurs in den Blick:
■ Welche Erwartungen dominieren gegenwärtig den Alltag der Menschen?
■ Wofür lassen sich Menschen (leicht) gewinnen?
■ Was gilt als unzumutbar? Was ist tabu?
■ Wem wird Anerkennung gezollt? Wer wird verachtet?
■ Was gilt als politisch korrekt und was als unkorrekt?
■ Wo begegnen sich Diskurs der Gesellschaft und Diskurs des Textes? In welcher Weise (einmütig, kollidierend, überlagernd, usw.)?
Anschließend werden die Diskurse aufeinander bezogen:
■ Welche dogmatischen Argumentationsmuster (soteriologische, eschiatologische, schöpfungstheologische, ekklesiologische, usw.) erschließen gleichermaßen den Text und die Situation?
■ Was erschwert eine Predigt mit diesem Text in der gegenwärtigen Situation?
■ Welche Aussagen des Textes scheinen »wie für heute geschrieben« zu sein? Besteht dadurch die Gefahrt des Missverstehens?
■ Welches Problem, welches Thema, welche Daseinserfahrung unterstelle ich, um mit diesem Text eine relevante Predigt halten zu können?
Hinweis: Engemann verweist darauf, (spätestens hier) die »homiletische Gebrauchsliteratur« (Predigten anderer Autorinnen/Autoren, Predigtmeditationen und -studien) zur Kenntnis zu nehmen. Er nennt aber deutlich die Gefahr, sich zu früh mit den Lösungsvorschlägen anderer zu beschäftigen. Zuvor gilt es, ein eigenes Bild von der Predigtaufgabe zu gewinnen, eigene Fragen gestellt zu haben.
2.7. Exkurs: Zum Umgang mit Material Anderer (Inhalte, Formen, Wörter, …)
Für die weitere Arbeit stellt sich die Frage, welcher Umgang mit dem Material Anderer angemessen, legitim und nützlich ist. Zwei Möglichkeiten bieten sich an:
■ entweder an-eignen und einbetten (ohne Angabe der Quelle), was aber nur geht, wenn Gedanke und Sprache zur Predigerin/zum Prediger passen bzw. passend gemacht werden
■ oder als Zitat kennzeichnen und als einen eigenständigen »Move« behandeln, also als einen eigenen Textabschnitt
Ob ein Zitat als Zitat gekennzeichnet werden soll oder muss, lässt sich nur im Einzelfall entscheiden.
3. Phase: Entscheidungen vor dem Entwurf
3.1. Überlegungen zum »Predigtthema«
Mit dem Begriff »Predigtthema« ist eine vorläufige Arbeitshypothese gemeint, die den Kern der weiteren Predigtarbeit bildet. Sprachlich kann diese Arbeitshypothese in Form eines Mottos, einer Überschrift oder eines markanten Leitgedankens erscheinen – in jedem Fall geht es um eine existentielle Frage oder ein situationsbezogenes Problem, verbunden mit einer zentralen Vorstellung des Textes, es geht (traditionell gesprochen) um den »Predigtskopus«.
mögliche Fragen:
■ Was will ich mit meiner Predigt sagen?
■ Was unterstelle ich, was setze ich voraus?
■ Zu welchem Verhalten will ich ermutigen bzw. welche Haltung entspricht dem, was ich sagen möchte?
■ Wer befasst sich sonst noch mit dem Thema, das ich ansprechen möchte (welche Institution, welches Fach, welche Berufe, usw.)? Habe ich als Theologin, als Theologe etwas spezifisch anderes dazu zu sagen?
■ Inwiefern kann meine Predigt ein konkreter Beitrag zum Führen eines »christlichen Lebens« aus dem Glauben heraus sein?
3.2. Exkurs: Zu Wirkabsicht und Ziel
An anderer Stelle wird die These von Predigt als funktionalem Text weiter entfaltet, damit auch Bestimmungen zur Wirkabsicht und zu einem regelrecht formulierten Ziel einer Predigt. Hier nur: Die Festlegung einer Wirkabsicht / eines Zieles (für diesen Gottesdienst an diesem Ort mit dier Adressatin/diesem Adressaten) sollte genau an dieser Stelle erfolgen, also als Schanier zwischen eher analytischen und eher kreativen Momenten in der Predigtarbeit.
3.3. Zum »Predigteinfall« (II)
Letztlich geht es in dieser Phase um zweierlei: Um die methodisch bewirkte und freie Sammlung der »Predigteinfälle« und um die Entscheidung für einen einen von ihnen. Dieser Predigteinfall ist nach Engemann unverzichtbar, um der Gefahr eines rein exegetisches Referates zu wehren. Hartnäckig und phantasievoll gilt es, »einen plausiblen und relevanten Ausgangs- bzw. Zielpunkt« zu finden.
4. Phase: Entwurf
4.1. Exkurs: Zur Struktur kreativer Prozesse
Für das konkrete Verfassen des Predigtmanuskriptes lohnt sich ein Seitenblick auf die Struktur kreativer Prozesse. Diese Struktur schlägt fünf von einander klar zu unterscheidende Schritte vor: Information und Entscheidung | Unterbrechung I | Kreation | Unterbrechung II | Über-Arbeitung (Lektorat). [Mehr zu der Logik und der Struktur kreativer Prozesse an anderer Stelle.]
4.2. Strukturierung des semantischen Feldes
Der Predigtskopus wird mit Material angereichert – aus dem homiletischen Tagebuch, durch spielerischen Umgang mit dem gedanklichen und sprachlichen Material des Textes, durch Anregungen aus der homiletischen Literatur, usw.
4.3. Entwurf des Manuskriptes
Prinzipiell bestehen zwei Handlungsalternativen:
a) einen Plan entwerfen (Ablauf, Struktur) und in einem zweiten Arbeitsschritt sprachlich füllen
b) »Losschreiben« und in einem zweiten Arbeitsschritt das geschriebene Material strukturieren
Eine dritte Alternative bieten Nicol und Deeg, die im Rahmen ihrer Dramaturgischen Homiletik »im Wechselschritt« zwischen »Moves und Structure« zum Predigtmanuskript gelangen.
In jedem Fall gilt es, beim Verfassen des Manuskriptes zu unterscheiden:
a) die Haltung und das Tun »erarbeiten« (also das Verfassen von Text)
b) die Haltung und das Tun »über-arbeiten« (also das Lektorieren von Text)
Wer beides zeitgleich zu verknüpfen sucht, verknotet seinen Kopf und seine Hände.
5. Der Plan B
Der skizzierte Prozess der Erstellung eines eigenen Predigtmanuskriptes braucht neben der Übung vor allem Zeit. Wenn diese Zeit nicht zur Verfügung steht, dann ist die Übernahme einer bestehenden Predigt (eigen oder fremd) auf jeden Fall sinnvoller als der Versuch, in zu knapper Zeit kreativ zu werden. Dieser Notfall-Plan B ist aber keine Dauerlösung.