»Neurowissenschaften« ist ein Sammelbegriff, der auf thematische Querschnitte unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche wie Biologie, Medizin, Psychologie usw. verweist. Neurowissenschaften geben wesentliche Hinweis zu den Prozessen der Wahrnehmung und Wirkung von Texten, unter anderen mit der Frage nach »Aufmerksamkeit«. Deshalb lohnt ein kleiner Blick in diesen großen Bereich.
Ein weiterer Blick führt von den Neurowissenschaften hin zu den Prozessen der Erarbeitung von Texten und damit unter anderem zur Kreativitätsforschung und der Frage, wie eigentlich Einfälle einfallen können. (Mehr dazu unter Vorbereiten …)
1. Zum Gehirn
Unser Gehirn
• wiegt durchschnittlich 1.400 Gramm (= 2 % Körpergewicht), verbraucht zwischen 20 und 40 % der Körperenergie (je nach Beanspruchung zwischen stand-by und Hochleistung)
• besteht aus rund 80 Milliarden Neuronen, die über Synapsen zu neuronalen Netzen verbunden sind; ca. 20 Milliarden Neuronen allein in der Großhirnrinde (Kortex), mit jeweils bis zu 10.000 Synapsen; weitere Milliarden in anderen Gehirnteilen wie dem Kleinhirn; diese Zahl gilt von Geburt an – das »Wachsen« des Gehirns ist keine Zunahme von Neuronen, sondern eine Zunahme und ein Ausbau der Nervenfasern (»Verbindungen«)
• genauer: um die Faser kann sich eine Myelinscheide legen, die wie eine Isolation wirkt; je mehr davon, desto »dicker« wirkt die Faser und desto schneller fließt der elektrische Reiz (zwischen drei Metern/Sekunde bis zu 110 Metern/Sekunde, also bis zu 40 mal schneller); vereinfacht gesagt: Synapsen sind plastisch; sie verändern sich durch Gebrauch, das aber langsam – durch einen häufigen oder fortwährenden Gebrauch werden sie ausgebaut, bei Nicht-Gebrauchen werden sie zurückgebaut
Unser Gehirn
• verarbeitet bewusst maximal 40 Bits pro Sekunde (Ein Bit ist die kleinste Informationseinheiten, z.B. 0 oder 1, an oder aus). Das Hören und Notieren einer Mobilfunknummer ist ein beispiel für den Maximalverarbeitung.
• beschränkt sich deshalb enorm durch Fokussierung und Konzentration; andere Informationen »verschwinden« noch vor dem bewussten Wahrnehmen und Verarbeiten
Exkurs: Menschen sprechen vermutlich seit ca. 100.00 Jahren (zumindest als Möglichkeit des Gehirns), damals vermutlich eher rudimentär; diese Möglichkeit hat hat zu einer erheblichen Weiterentwicklung des Gehirns geführt; auf stofflicher Ebene kam diese Entwicklung allerdings vor etwa 40.000 Jahren zu ihrem Abschluss – immerhin schon mit der Kreation von Bilder, Plastiken, Musik
Exkurs: Emotionen
– haben eine Stärke (viel – wenig)
– eine Valenz (positiv – negativ)
Eine akute emotionale Erregung in hinreichender Stärke kann Gehirnleistung intensivieren (bei positiver Valenz: freundliche Aufmerksamkeit, also Wachheit und Fokussierung); im Idealfall kommt es zu einer inneren Beteiligung und zur Spannung des Dabei-Sein (Bedeutungsfülle, Bezug auf mich, Verbindung zu Bekanntem). Unsere Emotionen begründen und gestalten Beziehungen, die mit ihren Resonanzphänomenen den Aufbau unserer neuronalen Netze beeinflussen (vgl. »social brain«); »Belohnungssystem« (Freude, Lust) und »Bestrafungssystem« (Angst) sind neurobiologisch deutlich unterscheidbar und getrennt zu verorten
2. Zum Lernen
Was ist (neurobiologisch) »Lernen«? Ein Vorschlag zur Verständigung: »mittel- und längerfristige Veränderungen des Fühlens, Denkens und Handels eines Individuums, die mit einer Gedächtnisbildung verbunden sind« (Roth/Ryba, 155).
Wie geht »Lernen« neurobiologisch im Detail vor sich? Ein äußerer Reiz trifft auf Sinneszelle; er wird – bei hinreichender Stärke – in Erregungsmuster der Nervenzellen umgewandelt; eintreffende Erregungsmuster (»Bilder«) werden im Gehirn abgeglichen mit Mustern (»Bildern«), die in den neuronalen Netzen bereits vorliegen und die erwartbar sind; wenn sich eine Differenz erweist (zwischen dem »neuen« Bild und den vorhandenen und erwarteten), entsteht »Unruhe« im neuronalen Netz und »Erregung« des Netzes und weiterer betroffener vernetzter Netze; diese führt zu einer »fokussierte Aufmerksamkeit« und dem Versuch, das »neue« zu bewerten; die grundlegenden Skalen sind unbekannt – bekannt | unbedeutend – bedeutend. Diese Vorgänge laufen fast immer unterhalb des aktiven Bewusstseins ab.
Das bedeutet allgemein: In Lernprozessen müssen »neue« Erregungsmuster an schon vorhandene Muster anschließen können – ohne basale »alte« Muster gibt es keinen Anschluss, keine Aufmerksamkeit und damit kein Lernen. Vor allem Erfahrungen bewirken eine Veränderung der neronalen Netze durch Knüpfen von neuen Verbindungen bzw. Ausbau von bestehenden Verbindungen; kleine Schritte, vom Einfachen zum Komplexen (aufeinander aufbauend), mit allgemeinen Strukturen (»Mustern«, »Regeln« zur Repräsentanz) und steter Wiederholung (Verstetigung). Wirkliches Lernen vollzieht sich also langsam, auch damit das jeweils Neue das schon Vorhandene nicht einfach überschreibt.
3. Zur Aufmerksamkeit
Menschen wechseln von fokussierter zu unfokussierter Aufmerksamkeit und zurück in Millisekunden. Aufmerksamkeitsspannen haben eine maximale Ausdehnung von zwei bis drei Minuten, dann erfolgt unweigerlich ein Abschweifen (»Entspannen«). Erst ein neuer Reiz (»Aufmerksamkeitserreger«) schafft neue Aufmerksamkeit.
Beispiele für Aufmerksamkeitserreger auf der Textebene sind etwa
• Anrede (Beziehung)
• Echte Frage (Beziehung)
• bildstarkes Wort
• bildstarkes Bild
• dargestellte Bewegung (innerlich oder äußerlich) – Kraft der Verben
• …
Und zur Einschränkung: Beim bewussten Verarbeiten von 40 Informationseinheiten pro Sekunde müssen wir radikal auswählen aus den möglichen Reizen in unserer Umgebung. Andrs formuliert: Predigthören ist subjektive Auswahl aus den möglichen Reizen und aktive Konstruktion der gehörten und gesehenen Wirklichkeit.